Mikita Franko – Die Lüge (dt. von Maria Rajer) (Rezension)

Buchcover Mikita Franko Die Lüge
(Copyright: Hoffmann und Campe Verlag)

Erscheinungsdatum: 03.05.20222
(Hoffmann und Campe Verlag, 384 Seiten, ISBN 3455013678)

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Inhalt

Mikita, genannt Miki, wächst nach dem frühen Tod seiner Mutter bei seinem Onkel und dessen Freund auf. Beide nennt er bald ganz selbstverständlich „Papa“, aber im homophoben Russland darf niemand von der Familienkonstellation erfahren. Wie gelingt es Miki, damit umzugehen, je älter er wird und je mehr er begreift, was dieses Verleugnen der eigenen Lebensrealität bedeutet?

Meine Meinung

Mikita Franko weiß, wovon er spricht – er definiert sich selbst als nicht-binär und lebt in Russland. „Die Lüge“ ist zwar keine klassische Autobiographie, aber natürlich ist es auch kein Zufall, dass die Hauptfigur seinen Namen trägt. So wird die Geschichte auch durchgängig aus der Sicht von Miki erzählt. Anfangs ist er ein 5-jähriges Kind und sieht demzufolge natürlich alles durch die Brille eines Kindes, was trotz der traurigen Ausgangslage oftmals nicht einer gewissen Komik entbehrt. Dass noch ein anderer Mann bei ihm und seinem Onkel lebt, findet Miki irgendwie seltsam, und er begreift auch nicht sofort, dass dieser auch ein Teil der Familie ist oder vielmehr werden soll, aber ebenso schnell wird das Leben mit zwei Männern als Eltern für ihn schließlich zur Normalität.

Ich fand insbesondere die Schilderungen aus der Zeit vor Mikis Einschulung sehr berührend. Die beiden Männer haben nicht geplant, gemeinsam ein Kind aufzuziehen – offiziell wäre das in Russland auch undenkbar. Slawa, der nur 16 Jahre ältere Onkel, ist zu Anfang mehr wie ein großer Bruder für Miki, und auch sein Partner Lew findet zunächst sehr schwer, dann aber umso bestimmter in seine (strenge) Vaterrolle hinein. Beiden Männern merkt man auf ihre Art aber an, wie sehr sie Miki lieben (lernen), auch wenn insbesondere Lew es nicht immer zeigen kann. Ich fand die Eltern-Kind-Beziehung sehr überzeugend dargestellt und beide Väter überaus sympathisch.

Mit der Einschulung kommt dann ein großer Wendepunkt, denn von nun an wird Miki eingebläut, dass er niemandem erzählen darf, dass er zwei Väter hat. Offiziell ist Slawa sein alleiniger Erziehungsberechtigter, und wenn Lew in Erscheinung tritt, dann nur als Freund der Familie. Die inneren Konflikte, in die Miki durch die Verleugnung seiner Lebensrealität gerät, fand ich erschütternd und sehr glaubhaft geschildert.

Insbesondere ab Mikis Teeniezeit wird das Geschehen zunehmend düster, was bei der Thematik natürlich erwartbar war. Ich empfand beim Lesen großes Mitleid mit dem Jungen, der einerseits einfach nur in Frieden leben möchte und andererseits fast zwangsläufig gegen das, was für ihn Normalität ist, rebellieren muss, weil die Gesellschaft, in der er sich zurechtfinden muss, es eben nicht als normal ansieht.

Den Schreibstil habe ich in der Übersetzung als sehr gut zu lesen empfunden, ich bin förmlich durch die Seiten geflogen. Die einzelnen Kapitel sind kurz und schildern viele Episoden aus Mikis Leben, wobei aber nie der rote Faden verloren geht. Eine überaus packende Geschichte zu einem wichtigen Thema, die mich in allen Facetten überzeugt hat.

Thalia
(*)

Fazit

Ich beschäftige mich zugegebenermaßen wenig mit queerer Literatur. Und obwohl oder gerade weil ich deshalb keine speziellen Erwartungen an das Buch hatte, war ich überrascht, wie sehr es mich in seinen Bann gezogen hat. Ich konnte, wie schon gesagt, nicht aufhören zu lesen und wollte gleichzeitig nicht, dass es zu Ende geht (was aber leider nach 2 Lesetagen der Fall war). Ein ganz großes und für mich sehr unerwartetes Lesehighlight!

Kleine Kritik am Rande, die aber in Richtung Verlag geht: Ich finde „Die Lüge“ als deutschen Titel nicht ganz passend gewählt, da mich diese Formulierung eher an einen Thriller denken lässt. Die Übersetzung des russischen Originaltitels lautet „Tage unseres Lebens“ und man kann sicher darüber streiten, ob das mehr über den Inhalt aussagt. Ich kann also durchaus nachvollziehen, dass hier im Deutschen ein ganz anderer Titel vergeben wurde – die Auswahl finde ich aber nicht ganz gelungen. Das tut der Qualität des Buches und meiner Leseempfehlung natürlich keinen Abbruch.

Bewertung

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