Kristine Bilkau – Nebenan (Rezension)

Buchcover Kristine Bilkau Nebenan
(Copyright: Luchterhand Literaturverlag)

Erscheinungsdatum: 08.03.2022
(Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, ISBN 363087519X)

Erhältlich bei:

Inhalt

In einem kleinen Ort irgendwo am Nord-Ostsee-Kanal leben zwei sehr unterschiedliche Frauen, die von ganz verschiedenen Themen umgetrieben werden: Astrid ist mit Anfang 60 ein Urgestein der Gegend als Hausärztin in der nahe gelegenen Kreisstadt. Sie erhält anonyme Briefe und muss sich um ihre alternde Tante Elsa kümmern. Dagegen ist Julia, Ende 30, gerade erst mit ihrem Partner aus der Großstadt hergezogen und führt einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop. Ihr Leben wird von ihrem großen und bislang unerfüllten Kinderwunsch bestimmt und nebenbei rätselt sie, was es mit dem plötzlichen Verschwinden der Nachbarsfamilie auf sich hat. Wie werden sich die Wege der beiden Frauen kreuzen?

Meine Meinung

„Nebenan“ ist ein sehr ruhiger Roman. Wir tauchen abwechselnd in die Lebens- und Gefühlswelt von Astrid und Julia ein, lernen Ausschnitte aus ihrem Alltag, aber auch viele ihrer Gedanken kennen. Die Erzählperspektive der dritten Person wahrt dabei immer eine gewisse Distanz, aber dennoch ist es Kristine Bilkau gelungen, dass man sich in beide Frauen gut hineinversetzen kann.

Julia steht für das Dilemma des Rückzugs ins Private bei gleichzeitiger Sehnsucht nach sozialem Austausch und Gesellschaft. Sie mag ihre Tätigkeit im Keramikladen, ist aber trotzdem irgendwie froh, wenn sie keine Kund*innen bedienen muss, sondern Online-Bestellungen bearbeiten kann. Ihr Wunsch nach einer eigenen Familie ist übergroß, denn eine solche hat sie selbst in ihrer Kindheit nicht erlebt. Neidisch schielt sie auf die Großfamilie ihres Freundes, die sie andererseits aber auch manchmal überfordert.

Fast zwanghaft verfolgt Julia außerdem das Geschehen auf Instagram-Familienaccounts, was ihr aufgrund ihrer eigenen Situation natürlich nicht gut tut, und versucht, etwas über den Verbleib der Nachbarsfamilie herauszufinden, obwohl auch diese ihr überdeutlich vor Augen geführt hat, was sie selbst vermisst. Es wird sehr deutlich, dass Julia noch nicht bei sich angekommen ist, auch wenn die „Flucht“ aus der Großstadt und der eigene Laden große Wünsche waren, die sich bereits erfüllt haben.

Astrid für ihren Teil beobachtet gern Menschen im Schwimmbad und versucht, die Beziehung zu ihrer ehemals besten Freundin wiederzubeleben, die nach einem Vorfall in der Vergangenheit auf Eis liegt. Hierbei entstehen Missverständnisse, die jede*r von uns in der einen oder anderen Art kennen dürfte. Die anonymen Briefe nagen an ihr, mit ihrer Tante Elsa hat sie es ebenfalls nicht leicht. Auch Astrid ist trotz des gesetzteren Alters immer noch auf der Suche nach dem richtigen Weg und manchmal auch dem richtigen Ton.

Fast nebenbei, aber trotzdem eindringlich, fließen auch Themen wie Umweltschutz, der Rechtsruck in der Gesellschaft und das Sterben der Innenstädte kleinerer Orte in die Geschichte ein. Hierbei spielen auch die Partner der beiden Frauen eine wichtige Rolle.

Mir hat der Roman aufgrund der schnörkellosen, aber sehr eindringlichen Erzählweise und der von Kristine Bilkau aus meiner Sicht hervorragend kreierten Atmosphäre außerordentlich gut gefallen. Es mag äußerlich vielleicht nicht viel passieren; im Innenleben der Figuren passiert aber ganz viel und die verschiedenen Themen, die beide Frauen beschäftigen, fand ich in sich sehr schlüssig dargestellt. Meine uneingeschränkte Sympathie erhielt keine der beiden, aber das änderte nichts daran, dass ich ein echtes Interesse an ihnen entwickeln konnte.

Am Ende des Buchs bleibt noch viel offen, was mich aber nicht störte, sondern sich im Gegenteil gut in die Gesamtheit der Geschichte einfügte: Wir hangeln uns hier nun mal nicht zu einer großen Auflösung am Ende, ebenso wenig, wie das Leben in den meisten Fällen die eine große Auflösung aller Probleme und Fragen zu bieten hat.

Thalia
(*)

Fazit

Wer von „Nebenan“ viel Action oder gar einen Thriller erwartet, in dem es vorrangig darum geht, das Rätsel um die verschwundene Familie aufzudecken – die eine oder andere Inhaltsbeschreibung suggeriert das aus meiner Sicht –, wird nicht auf seine Kosten kommen. (Und Achtung, Spoiler: Nein, das „mysteriöse“ Kind, das gleich zu Beginn in deren Garten auftaucht, ist auch kein Geist.)

Es ist vielmehr eine leise und im besten Sinne gemächlich erzählte Geschichte über das Leben in einem kleinen Ort – nicht richtig „auf dem Land“, aber eben auch weit weg von der Großstadt. Davon, wie sich Menschen an und in solchen Orten begegnen, abseits einer klassischen Dorfkonstellation, in der man alles von seinen Nachbar*innen mitbekommt, wo sich aber trotzdem viele zumindest flüchtig kennen und man unweigerlich aufeinander trifft – ohne letztlich, bis auf Ausnahmen, übermäßig viel voneinander zu erfahren.

Für mich war „Nebenan“ ein besonderes Buch und ein ganz unerwartetes Highlight im bisherigen Lesejahr und wurde vollkommen zu Recht für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert.

Bewertung

(Danke an das Bloggerportal für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)

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