Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast (dt. von Susanne Höbel) (Rezension)

Buchcover Miranda Cowley Heller Der Papierpalast
(Copyright: Ullstein)

Erscheinungsdatum: 31.03.2022
(Ullstein, 448 Seiten, ISBN 3550201370)

Erhältlich bei:

Inhalt

Elle ist 50, verheiratet und Mutter von drei Kindern. Im Landhaus ihrer Familie auf Cape Cod, wegen seiner fragilen Bauart liebevoll als „Papierpalast“ bezeichnet, hat sie viele Sommer ihres Lebens verbracht. So auch diesen schicksalhaften Sommer, in dem etwas Einschneidendes passiert: Elle schläft mit ihrem besten Freund Jonas und sinniert an einem langen Tag darüber, ob sie ihren Mann Peter für ihn verlassen soll oder nicht.

In zahlreichen Rückblenden erfahren wir dabei viel über die Dynamiken in Elles Familie, wie sie Jonas kennengelernt hat, was die beiden auf besondere Art verbindet – und schließlich auch, wie Peter in ihr Leben trat. Wie wird Elle sich am Ende entscheiden?

Meine Meinung

„Der Papierpalast“ besticht mit einer wunderbar atmosphärischen Sprache, die aus meiner Sicht auch seine größte Stärke ist. Die Landschaft um Cape Cod wird beim Lesen lebendig; man spürt förmlich die drückende und feuchte Sommerhitze und sieht die beschriebene Seenlandschaft vor sich. In dieser Hinsicht hat mich das Buch – vielleicht auch aufgrund der ähnlichen geographischen Verortung – ein wenig an „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens erinnert.

Nicht ins Bild passte für meine Begriffe allerdings der vulgäre Ausdruck „f*cken“, den Elle durchgängig für ihr „Erlebnis“ mit Jonas verwendet. Grundsätzlich habe ich nichts gegen den Einsatz etwas derberer Sprache, wenn es zum allgemeinen Ton der Geschichte passt; hier empfand ich ihn aber als Stilbruch. Vielleicht wirkt das Wort „f*ck“, das ich an dieser Stelle im Original vermute, ja auf englische Muttersprachler*innen nicht so; im Deutschen hätte die Übersetzerin eventuell einen anderen Begriff wählen können.

Die Erzählstruktur des Romans ist ungewöhnlich: Die eigentliche Handlung spielt an nur einem einzigen Tag; in langen Rückblenden lässt uns Miranda Cowley Heller aber an Elles kompletter Familiengeschichte teilhaben. Und genau das macht die Story zu mehr als nur einer Dreiecksgeschichte: Zugleich erleben wir ein Familiendrama, das sich mit Elles Beziehung zu ihren Eltern und ihrer Schwester sowie ihren inneren Dämonen auseinandersetzt. Nach und nach wird deutlich, wie Elle zu der Frau wurde, die sie heute ist.

Elle war mir als Protagonistin nicht durchgängig sympathisch, aber ich empfand sie als sehr realistisch gezeichnet. Sicher handelt sie nicht immer richtig, aber aus den beschriebenen Situationen heraus schlüssig und nachvollziehbar.

Die beiden männlichen Hauptfiguren und Elles Beziehung zu ihnen waren mir hingegen alles in allem etwas zu holzschnittartig entworfen: Für ihren langjährigen treusorgenden Ehemann Peter empfindet Elle eine tiefe Liebe, er ist der Vater ihrer Kinder, aber „natürlich“ ist die Leidenschaft ein wenig auf der Strecke geblieben. Jonas hingegen bleibt immer ein unerreichbares Phantom und wirkt dadurch fast automatisch neu und aufregend auf Elle, auch wenn sich beiden schon seit fast 40 Jahren – und damit deutlich länger als Elle und Peter – kennen. Da Jonas in all den Jahren immer mal wieder aus Elles Leben verschwunden war, hatte ich den Eindruck, dass sie hier eher einer Projektion nachjagt als der realen Person.

Auch Jonas selbst ist übrigens verheiratet, und auch die stets unterschwellig misstrauische Ehefrau, die Elle ihrerseits natürlich nicht besonders leiden kann – obwohl sie auch mit ihr inzwischen zumindest „offiziell“ befreundet ist –, fand ich ein wenig klischeehaft. Derartige Dynamiken zwischen Figuren in ähnlichen Konstellationen kennt man schon aus vielen anderen Büchern oder auch Filmen und deshalb wirkten sie auf mich stellenweise nicht allzu originell – auch wenn sie realitätsnah sein mögen.

Nichtsdestotrotz würde ich dem Buch mit dem Urteil „same old story“ unrecht tun, denn Elles Familiengeschichte und die Zerrissenheit zwischen den beiden Männern ist einfach unheimlich gut erzählt und an vielen Stellen auch sehr spannend zu lesen. Ich wollte auf jeden Fall wissen, wie Elle sich am Ende entscheidet. Und genau dieses Ende lässt sicher unterschiedliche Interpretationen zu. Ich war mir zwar zunächst sicher, es eindeutig verstanden zu haben, bin mir aber unschlüssig, seit ich auch andere Deutungen gelesen habe.

Es sei an dieser Stelle noch eine Warnung für teilweise sehr explizite Schilderungen von sexuellem Missbrauch (auch an Kindern) ausgesprochen. Wer sich von dieser Thematik fernhalten möchte, sollte das Buch nicht lesen, denn die fraglichen Passagen sind schwer zu ignorieren und auch sehr relevant für die Geschichte.

Thalia
(*)

Fazit

„Der Papierpalast“ lebt von seiner einnehmenden Sprache und einer betörenden Atmosphäre, der ich mich schwer entziehen konnte – da verzeihe ich dann auch mal gern eine gewisse Handlungsarmut und das eine oder andere Klischee. Ein Jahreshighlight wird das Buch für mich aller Voraussicht nach zwar nicht werden, aber es hat mich trotz einiger kleiner Kritikpunkte sehr in seinen Bann gezogen und ich hatte ein sehr gelungenes Leseerlebnis damit, das mir sicher im Gedächtnis bleiben wird.

Bewertung

(Danke an Ullstein Buchverlage und Netgalley für das Rezensionsexamplar. Keine weitere Vergütung erhalten.)

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4 Kommentare

  1. Ich habe den Roman am letzten Wochenende gelesen, kam auch nicht weg davon. Er hat mich sehr berührt, kann vieles nachvollziehen, was Sie schreiben.
    Mir ist leider nicht ganz klar, wie sie sich nun entschieden hat. “ Jonas, Peter, mich“? Sie gibt dem einen den Ring zurück, den anderen Ring lässt sie auf den Stufen zum See liegen, geht schwimmen. Lässt sie beide Mänenr und alles zurück?
    Wie ist es Ihnen diesbezüglich ergangen?

  2. Liebe Anne,

    vielen Dank für Ihren Kommentar – es freut mich sehr, dass Ihnen das Buch auch so gut gefallen hat und Sie meine Rezension treffend finden. 🙂

    Das Ende kann sicherlich unterschiedlich interpretiert werden. (Achtung, Spoiler!) Ich selbst habe es so gelesen, dass die Entscheidung für Peter weiterhin steht, habe von anderen Leser*innen aber auch schon andere Meinungen gehört. Vielleicht wollte die Autorin es auch bewusst offen halten.

    Viele Grüße und ich freue mich, wenn Sie weiterhin hier vorbeischauen! 🙂

  3. Liebe Anne, liebe Julia,

    es steht doch eigentlich ganz klar da: „Ich ziehe meinen EHERING ab (…).“ Dann drückt sie ihn in die Hand („zum letzten Mal“), legt ihn auf die Stufen und geht zum See (zu Jonas).

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