Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige (dt. von Doris Heinemann) (Rezension)

Buchcover Delphine de Vigan Die Kinder sind Könige
(Copyright: DuMont Buchverlag)

Erscheinungsdatum: 07.03.2022
(DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, 320 Seiten, ISBN 978-3-8321-8188-8)

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Inhalt

Frankreich, Anfang der 2000er: Die 17-jährige Mélanie ist großer Fan von Reality Shows wie „Big Brother“, bewundert die Kandidat*innen und träumt davon, selbst durch eine solche Fernsehsendung berühmt zu werden. Ein Teilnahmeversuch an einer Datingshow scheitert, aber der Wunsch nach Aufmerksamkeit bleibt.

Gute 10 Jahre später ist alles viel einfacher geworden: Man muss man sich nicht mal mehr irgendwo bewerben, um sich einem breiten Publikum zu präsentieren. Mélanie entdeckt die Möglichkeiten der noch vergleichsweise jungen sozialen Netzwerke im Internet. Inzwischen ist sie Mutter von zwei Kindern und baut einen erfolgreichen YouTube-Kanal auf, in dem sie die beiden Geschenke auspacken oder an „Challenges“ teilnehmen lässt. In Instagram-Stories kann die schnell millionenstarke Fangemeinde bald den gesamten Alltag der Familie verfolgen, durch Werbepartnerschaften fließen riesige Geldsummen in die Familienkasse.

Mélanie sieht sich am Ziel aller Träume, und ihr Denken dreht sich nur noch um Follower, Kommentare und Likes. Kimmy, der 6-jährigen Tochter, scheint das ständige Gefilmtwerden allerdings allmählich zu viel zu werden – und die Panik ist groß, als sie Ende 2019 beim Versteckspielen vor dem Haus einfach verschwindet. Die Polizistin Clara, die mit sozialen Medien bisher nicht viel am Hut hatte, übernimmt den Fall und taucht ab in eine Parallelwelt, in der übliche Ermittlungsmethoden nicht zu funktionieren scheinen …

Meine Meinung

Ich bin ein großer Fan von Delphine de Vigan, und „Die Kinder sind Könige“ hat meine hohen Erwartungen absolut erfüllt. Die Kapitel sind abwechselnd Mélanie und Clara gewidmet und schildern damit zwei Perspektiven, die unterschiedlicher kaum sein könnten, sich aber durch Kimmys Verschwinden unfreiwillig vereinen.

Mélanie wirkte auf mich in ihrem Streben nach Aufmerksamkeit zunächst verletzlich und bemitleidenswert, später in ihrer Verbohrtheit nur noch unsympathisch. Sie ist überzeugt davon, für ihre Kinder seien die Videodrehs und alles, was dazu gehört, ein großer Spaß. Und am Anfang war es das ja auch. Dass sie die zunehmend negativen Signale ihrer Tochter vollkommen übersieht (oder übersehen will?), ließ mich beim Lesen schmerzhaft mit den Kindern mitfühlen, die eigentlich die „Könige“ sein sollten. In Wirklichkeit sind sie leider nur Marionetten im übersteigerten Aufmerksamkeitswahn ihrer Mutter.

Die Polizistin Clara, eine recht unterkühlt wirkende und toughe junge Frau – sie ist in Mélanies Alter – bildet den Gegenpol: Die „Kinderkanäle“ auf YouTube sind für sie eine fremde Welt, von der sie bei den Ermittlungen zu Kimmys Verschwinden gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen ist. Hiermit steht sie wahrscheinlich stellvertretend für viele Leser*innen, weshalb mir die Identifikation mit ihr leicht fiel, auch wenn ich sie ebenfalls nicht direkt sympathisch fand.

Delphine de Vigan hat in diesem Roman eine nüchterne, distanzierte Sprache gewählt. Fast liest er sich wie ein Bericht, was durch zahlreiche polizeiliche Verschriftlichungen von Mélanies Videos und Instagram-Stories noch verstärkt wird. Trotzdem hatte ich beim Lesen das Gefühl, einen spannenden Thriller in der Hand zu halten, denn natürlich wollte ich wissen, wer oder was hinter Kimmys Verschwinden steckt. Die Auflösung dürfte viele Leser*innen überraschen.

Im letzten Viertel des Romans wagt die Autorin einen Blick in das Jahr 2031 und liefert damit ein mögliches Szenario zur Beantwortung der Frage nach dem langfristigen Einfluss unserer schon heute veränderten Medienlandschaft. Was ist 12 Jahre später aus den Protagonist*innen geworden, wie hat sich die Gesellschaft verändert? Diese Idee fand ich genial, hätte mir diesen letzten Teil aus dramaturgischen Gründen aber vielleicht ein klein wenig anders strukturiert gewünscht. Es hätte aus meiner Sicht mehr Spannung erzeugt, das Schicksal einer bestimmten Figur erst später zu enthüllen, statt direkt zu Beginn. Das ist aber mein einziger kleiner Kritikpunkt an einem Buch, das mich ganz außerordentlich beeindruckt hat.

Thalia
(*)

Fazit

Delphine de Vigan hat mit „Die Kinder sind Könige“ einen vielschichtigen und sehr aufrüttelnden Roman über ein Thema geschrieben, das uns alle betrifft. Wir sind zwar nicht alle YouTube-Stars oder Influencer*innen, aber es gibt sie, sie werden immer mehr, immer jünger – welche Auswirkungen wird dies langfristig auf diese Menschen als Einzelpersonen, auf ihre Familien und letztlich uns alle als Gesellschaft haben? Und inwieweit unterstützen wir diese Entwicklung mit unseren Klicks und Likes?

Das Buch liefert einen erschreckenden und sehr realistischen Einblick in eine Parallelwelt, die bereits heute existiert – und sich möglicherweise in den kommenden Jahren genau so oder sehr ähnlich entwickeln wird, wie die Autorin es vorhersagt. Mich hat die Geschichte vollkommen in ihren Bann gezogen, und dieses Buch wird mit Sicherheit zu meinen Jahreshighlights 2022 zählen.

Mehr Gesellschaftskritik, wenn auch zu einem ganz anderen Thema, übt Delphine de Vigan in „Loyalitäten“, einem meiner absoluten Lieblingsbücher von ihr.

Bewertung

(Danke an den Dumont Buchverlag und Netgalley für das Rezensionsexemplar. Keine weitere Vergütung erhalten.)

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