Daniel Glattauer – Die spürst du nicht (Rezension)

Buchcover Daniel Glattauer Die spürst du nicht
(Copyright: Paul Zsolnay Verlag)

Erscheinungsdatum: 20.03.2023
(Paul Zsolnay Verlag, 304 Seiten, ISBN 3552073337)

Erhältlich bei:

Inhalt

Zwei wohlhabende österreichische Familien wollen einen gemeinsamen Urlaub in der Toskana verbringen. Die 14-jährige Sophie Luise hat ihre Schulfreundin Aayana mit dazu eingeladen, die ihrerseits mit ihrer Familie aus Somalia geflüchtet ist und seit einiger Zeit in Österreich lebt. Doch aus der vor allem von den Erwachsenen herbeigesehnten Entspannung in der großzügigen Villa wird nichts, denn bereits am ersten Abend passiert eine große Katastrophe, bei der Aayana im Mittelpunkt steht.

Schnell dringt das Ereignis in die Öffentlichkeit und facht gesellschaftliche und sogar politische Diskussionen an, denn Sophies Luises Mutter ist eine bekannte Grün-Politikerin und wird als kommende Umweltministerin gehandelt. Vielfach stellen sich nun die Fragen: Was ist ein Menschenleben wert, ist jedes gleich viel wert – und wo liegt die Grenze zwischen (Eigen-)Verantwortung und Selbstschutz?

Meine Meinung

Ich kannte von Daniel Glattauer bisher nur seine Briefromane „Gut gegen Nordwind“ und „Alle sieben Wellen“, die mir sehr gefallen haben. Und „Die spürst du nicht“ fand ich sogar noch stärker aufgebaut. Eine allwissende Erzählstimme schildert mit viel ironischem Humor die beiden urlaubenden Familien ab der ersten Seite so bildlich und treffend, dass man sie alle vor sich sitzen sieht: Die Politikerin Elisa und ihren Mann Oscar, einen steifen Universitätsprofessor, und das andere Paar, Elisas Jugendfreundin Melanie und ihren Mann Engelbert, in der Heimat als Besitzer eines großen Weinguts ebenfalls kein Unbekannter.

Und natürlich Elisas und Oscars Teenie-Tochter Sophie Luise, deren Lebensinhalt das schönste Selfie im Sonnenuntergang zu sein scheint – und, aus nicht ganz ersichtlichen Gründen, die Fürsorge für ihre Mitschülerin Aayana. Diese hat sie kurzerhand zu ihrer „besten Freundin“ auserkoren, obwohl sich die beiden kaum miteinander verständigen können, und möchte ihr im Urlaub unbedingt das Schwimmen beibringen – und genau damit nimmt das Unheil seinen Lauf.

Was also vergnüglich beginnt, lässt einem im Folgenden schnell das Lachen vergehen: Lustig wird es ab der bereits erwähnten Katastrophe, die schon nach wenigen Seiten passiert und um die sich der „Rest“ des Romans dreht, nur noch vereinzelt, aber die starke Erzählweise bleibt. Anhand von Zeitungsartikeln und fiktiven Leserkommentaren wird der Vorfall aus vielen verschiedenen Perspektiven eingeordnet; gleichzeitig bleiben wir aber nah an den Protagonist*innen und ihrem sehr unterschiedlichen Umgang mit dem Geschehenen. Auch hierbei tritt mit einem schmierigen Anwalt, den Oscar aus Schulzeiten kennt, eine Figur auf den Plan, die überzeichnet und karikiert wirken mag – von der Realität aber sicherlich nicht so weit weg ist, wie man es sich wünschen mag.

„Die spürst du nicht“ entwickelt einen Sog aus (Doppel-)Moral, Lügen und Halbwahrheiten, Freundschaft, Loyalität und Trauma, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich habe das Schicksal der verschiedenen Figuren wie gebannt verfolgt und das Buch an einem einzigen Tag durchgelesen. Das Ende trifft dann noch einmal hart, sehr hart sogar. Hier kommt endlich auch die geflüchtete Familie des somalischen Mädchens zu Wort und deren Geschichte ist schier unerträglich – und steht doch stellvertretend für die Erlebnisse vieler Menschen, die unter furchtbaren Umständen aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

So ganz konnte der Autor das mit dem Briefroman übrigens auch in diesem Buch nicht lassen: Sophie Luise lernt über ein Internetforum ebenfalls einen „Brieffreund“ kennen und verliert sich im Austausch mit ihm – was man, wenn man „Gut gegen Nordwind“ und dessen Nachfolger kennt, ein bisschen ausgelutscht finden könnte. Tatsächlich ist dieser Briefwechsel und wozu er letztendlich führt, aber so gut ausgearbeitet, dass man Daniel Glattauer dieses „Aufwärmen“ eines bekannten Konzepts sehr gerne verzeiht.


Thalia
(*)

Fazit

„Die spürst du nicht“ ist entlarvend, schonungslos und insgesamt einfach so fantastisch erzählt, dass mir hier nur die volle Punktzahl zu vergeben bleibt. Ein ganz großes Highlight im noch jungen Lesejahr 2023!

(Danke an den Paul Zsolnay Verlag und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)

Bewertung

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