Julia Friese – MTTR (Rezension)

Buchover Julia Friese MTTR
(Copyright: Wallstein Verlag)

Erscheinungsdatum: 10.08.2022
(Wallstein Verlag, 421 Seiten, ISBN 3835352571)

Erhältlich bei:

Inhalt

Teresa, Anfang 30, ist schwanger. Nach anfänglicher Unsicherheit entscheidet sie sich für das Kind, und ab diesem Zeitpunkt scheinen weder ihr Körper noch das Baby allein ihr zu gehören. Eltern und Schwiegereltern in spe mischen sich ein, äußern – direkt und indirekt – ihre Erwartungen, im Geburtsvorbereitungskurs fühlt sie sich wie ein Alien, weil sie in einer Klinik und nicht in einem Geburtshaus entbinden möchte. In besagter Klinik werden sie und ihr Kind wie am Fließband abgefertigt.

Und bei all dem spürt Teresa immer wieder den Druck der Gesellschaft, das System Familie irgendwie „besser“ zu machen als die Generation davor – aber stehen wir heutzutage wirklich unter weniger Zwängen, oder sind es nur andere?

Meine Meinung

MTTR steht für „Mean Time To Recover“ und wird laut Wikipedia als die „mittlere Reparaturzeit nach einem Ausfall eines Systems“ definiert. Aber natürlich drängt sich im gegebenen Kontext auch die Lesart „MUTTER“ auf – Mutter mit Leerstellen als „Defekt“ vielleicht, und nicht nur Teresa hadert damit, diese zu füllen. Einerseits hat sie fast zu viel Wahlfreiheit – will sie das Kind überhaupt bekommen oder nicht? Andererseits meint jede*r um sie herum, ganz genau zu wissen, was für sie und das Kind am besten ist, und spricht ihr dagegen dieses Wissen ab.

Ich kam anfangs nur schwer in das Buch hinein. Die kurzen und abgehackten, gerade zu Beginn oft unvollständigen Sätze, die Teresas Gedankenstrom nachbilden, störten mich zunächst. Auf der anderen Seite fand ich es faszinierend, wie leicht es mir gelang, die unvollendeten Sätze im Kopf unwillkürlich zu ergänzen. Letztendlich kam ich beim weiteren Lesen zu dem Schluss, dass die Geschichte genau auf den Punkt erzählt wird – ohne ein Wort zu viel oder zu wenig.

Apropos „zu viel“: Einige Szenen mit Teresas (Schwieger-)Eltern habe ich zunächst zwar tatsächlich als zu lang empfunden, einfach weil mir ihr Dauergequassel (und vor allem dessen Inhalt) unheimlich auf die Nerven gingen. Aber auch das lernte ich im Laufe der Geschichte zu schätzen, denn tatsächlich kam es mir dadurch so vor, als würden diese Personen neben mir stehen und MICH vollquatschen – und leider hören solche Leute ja auch im wahren Leben meist nicht auf zu reden, nur weil man sich das wünscht.

Teresa wirkt in großen Teilen der Geschichte sehr passiv, und erst nach und nach wird klar, dass sie als Kind in ihrem Elternhaus nicht nur psychischer, sondern auch physischer Gewalt ausgesetzt war. Im Umgang mit ihren Eltern erleben wir sie deshalb in einer Art Schockstarre – sie will ihnen einerseits alles recht machen, sich aber andererseits auch gegen sie auflehnen und mit ihrem eigenen Kind anders umgehen. Ein Dilemma, das in einer durchaus nachvollziehbaren Hilf- und Sprachlosigkeit resultiert.

Julia Friese fasst in „MTTR“ sehr viel von dem, was heute bei den Themen Schwanger- und Mutterschaft oft falsch läuft, in einer einzigen Geschichte zusammen. Dass ihrer Protagonistin „alles“ davon widerfährt, mag zunächst nicht ganz realistisch erscheinen; ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie das Kind, das sie sich – so wirkte es auf mich zumindest zu Beginn – doch insgeheim wünschte, in erster Reaktion abtreiben lassen will. Später deutete ich dies aber als bewusste Zuspitzung der Unsicherheit, die wahrscheinliche viele Frauen zu Beginn einer Schwangerschaft spüren – auch wenn diese gewünscht war und bewusst herbeigeführt wurde.

Ähnliches gilt auch für den weiteren Verlauf der Geschichte und die darin auftauchenden Figuren und Konstellationen. Sicher begegnen nicht jeder (werdenden) Mutter tatsächlich die Eso-Hebamme, die besserwisserische Kollegin, die klischeehafte kinderlose Freundin und das unempathischste Krankenhauspersonal, das man sich vorstellen kann. Aber es muss auch nicht alles davon auf jeden Einzelfall zutreffen, um hier in geballter Form geschildert werden zu dürfen.

Letztendlich hat mich „MTTR“ in einen Sog gezogen, dem ich mich nicht entziehen konnte. Sehr plastische und, wie mir die Mütter in der Leserunde, mit der ich das Buch gelesen habe, versichert haben, auch sehr realistische Schilderungen z. B. auch vom Geburtsvorgang fand ich teilweise schwer erträglich. Aber gerade das machte den großen Reiz dieses Buches aus.

Thalia
(*)

Fazit

„MTTR“ ist ein Buch für alle: Mütter, die sich verstanden fühlen wollen. Mütter, die bewusst gegen die beschriebenen Strukturen angehen möchten. Nichtmütter, sie sich in ihrem Nichtkinderwunsch bestätigen lassen wollen. Noch-nicht-Mütter, die vorbereitet sein wollen auf das, was auf sie zukommen kann. Und schließlich werden sich auch alle Lesenden in der einen oder anderen Weise mit der Perspektive von Teresa als Kind (ihrer Eltern) identifizieren können. Ein Buch, das ich damit tatsächlich allen empfehlen kann, weil ich der Meinung bin, dass es jede*n bereichern wird.

Bewertung

(Danke an den Wallstein Verlag und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)

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