Virginie Despentes – Liebes Arschloch (dt. von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis) (Rezension)

Buchcover Virginie Despentes Liebes Arschloch
(Copyright: Kiepenheuer&Witsch)

Erscheinungsdatum: 09.02.2023
(Kiepenheuer&Witsch, 336 Seiten, ISBN 3462004999)

Erhältlich bei:

Inhalt

Ein Instagram-Post des 43-jährigen Schriftstellers Oscar, in dem er eine Schauspielerin jenseits der 50 für ihr angeblich „verlebtes“ Aussehen beleidigt, bringt einen folgenschweren Briefwechsel ins Rollen: Rebecca, besagte Schauspielerin, schreibt ihn daraufhin persönlich an und beginnt die erste Nachricht gebührend mit „Liebes Arschloch“. Schnell kommt Oscar aus der Deckung und verrät ihr, dass sie sich sogar persönlich kennen – er ist der jüngere Bruder einer Jugendfreundin von Rebecca.

Was als Schlagabtausch voller persönlicher Diffamierungen beginnt, entwickelt sich mit der Zeit zu einer seltsam anmutenden Freundschaft, denn die Erinnerung an einige Episoden aus ihrer Jugend ist letztlich trotz aller Verschiedenheit nicht alles, was die beiden gemeinsam haben …

Meine Meinung

Vor kurzem habe ich „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban gelesen, und einiges in „Liebes Arschloch“ erinnerte mich an dieses Buch: Beide schildern den (elektronischen) Briefwechsel zweier nicht unbedingt sympathischer Protagonist*innen zu gesellschaftlich relevanten und aktuellen Themen, wobei „Zwischen Welten“ diesbezüglich vielleicht noch etwas breiter aufgestellt ist.

„Liebes Arschloch“ fokussiert sich größtenteils auf unterschiedliche Ansätze des Feminismus und die „Me too“-Debatte – Oscar hat vor einigen Jahren seine junge Assistentin Zoé belästigt, die damit an die Öffentlichkeit geht und einen Shitstorm gegen Oscar auslöst, dabei aber selbst zu einer kontroversen Figur wird. Einige ihrer Blogposts sind zwischen den Briefen von Rebecca und Oscar eingestreut. Mir gefiel, dass damit nicht nur über Zoé gesprochen wird, sondern sie auch eine eigene Stimme bekommt.

Wie bereits angedeutet, fällt es ebenfalls schwer, mit Rebecca oder Oscar zu sympathisieren. Beide sind zynische, wütende und vom Leben gezeichnete Persönlichkeiten, die sich in Drogen bzw. Alkohol flüchten. Rebecca bekommt als alternde Schauspielerin beim Film nicht mehr so gute Rollen wie früher und hat sich jede Menge Star-Allüren zugelegt, Oscar ist zwar ein leidlich erfolgreicher Schriftsteller, kommt aber alles andere als gut bei Frauen an und ergeht sich in Selbstmitleid.

Mitten in den Briefwechsel platzt plötzlich auch noch die Corona-Pandemie, die sich erstaunlicherweise eher positiv auf die beiden auswirkt. Ich fand es erfrischend, mal eine solch andere Perspektive auf dieses Thema zu lesen. Dennoch nahmen mir insgesamt die bereits erwähnten Alkohol- und Drogenprobleme der beiden Hauptfiguren etwas zu viel Raum in dem Buch ein. Es dreht sich doch sehr viel um die – erst realen, während der Pandemie dann virtuellen – Treffen mit einer Selbsthilfegruppe (eine Art französische Variante der Anonymen Alkoholiker).

Davon abgesehen, übte „Liebes Arschloch“ auf mich aber einen eigenartigen Sog aus – die beiden ziemlich kaputt scheinenden Protagonist*innen nähern sich einander nach und nach an, und genauso schleichend fand auch ich sie plötzlich nicht nur noch nervig. Dennoch: Im realen Leben kennenlernen möchte man die beiden nicht unbedingt.


Thalia
(*)

Fazit

Scharf beobachtet und sehr gut formuliert konfrontiert uns Virgnie Despentes in diesem brandaktuellen Roman mit den Schattenseiten des Künstler*innenlebens genauso wie mit aktuellen gesellschaftlichen Diskursen. (Diesbezüglich fällt übrigens überhaupt nicht auf, dass das Buch in Frankreich, oder anders gesagt, nicht in Deutschland spielt.)

Um noch einmal den Vergleich zu „Zwischen Welten“ zu bemühen: „Liebes Arschloch“ ist weniger plakativ, die Hauptfiguren wirken authentischer und weniger wie ein Mittel zum Zweck, um gesellschaftliche Kontroversen zu inszenieren, als in „Zwischen Welten“. Aufgrund der für meinen Geschmack etwas zu häufig eingestreuten Reflektionen über Drogenkonsum vergebe ich insgesamt trotzdem einen halben Stern weniger – und spreche dennoch eine große Leseempfehlung aus. Zumindest für alle, die nicht unbedingt einen Wohlfühlroman suchen, dafür aber ein Buch, das mit der Ambivalenz der Hauptfiguren und einer sehr pointierten Sprache überzeugt.

(Danke an Netgalley und Kiepenheuer&Witsch für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)

Bewertung

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