Verena Keßler – Gym (Rezension)

Erscheinungsdatum: 19.08.2025
(Hanser Berlin, 192 Seiten, ISBN 978-3446281639)
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Inhalt
Die namenlose Protagonistin bewirbt sich um einen Job in einem Fitnessstudio. Der Besitzer bringt ihr schonend bei, dass ihre Optik – ungewaschene Haare, Erdnussflip-Bauchansatz – dafür nicht ganz geeignet sei. Als selbsternannter Feminist gibt er ihr aber dennoch sofort eine Chance, als er hört, dass sie „gerade entbunden“ habe.
Was allerdings gar nicht stimmt. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf: Vom erfundenen Kind bis hin zu ihrer geheimnisvollen Vergangenheit verirrt sich die Protagonistin in einem Netz aus Lügen, Kontrolle und dem Streben nach Perfektion. Wo sie doch schon mal im Fitnessstudio arbeitet, kann sie ja schließlich auch wirklich dort trainieren und versuchen, die Bodybuilderin übertrumpfen, die sie mit ihrer Muskelmasse beeindruckt. Zwischen Protein-Shakes, Kniebeugen und Fotos eines fremden Kindes, das sie als ihr eigenes ausgibt, gerät die Protagonistin in einen Strudel, dem sie irgendwann selbst nicht mehr entkommen kann …
Meine Meinung
Verena Keßlers Roman ist anders als die beiden Vorgänger “Die Gespenster von Demmin” und “Eva”, ganz anders. Laut und grell, kurios bis grotesk, überladen und trotzdem oder gerade deswegen überzeugend. Feminismus und die Identität der modernen Frau werden hier aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet als in „Eva“, (Nicht-)Mutterschaft ist in „Gym“ nur ein Teil davon.
Die Protagonistin erzählt – vermutlich nicht immer zuverlässig – aus der Ich-Perspektive und inszeniert sich in einem Doppelleben. Mehr als einmal stellte ich mir beim Lesen die Frage, ob denn wirklich niemand aus ihrem Umfeld merkt, dass ihre Geschichten nicht stimmen (können) – aber am Ende gehört das zur Botschaft der Story dazu: Die Oberfläche und der schöne Schein übertünchen das, was wirklich dahintersteckt.
Langsam entblättert sich in Rückblenden auch die Vergangenheit der Protagonistin und legt eine psychische Konstitution offen, die auch die in der Gegenwart geschilderten Ereignisse nach und nach immer plausibler erscheinen lassen.
Verena Keßler erzählt von Optimierungszwängen, Obsessionen und psychischen Belastungen aufgrund interner wie auch externer, gesellschaftlich beeinflusster Faktoren. An vielen Stellen wirkt das überzogen, trifft aber trotzdem oder gerade deswegen sehr oft genau den Kern der Themen, die hier angekreidet werden sollen. Der Schreibstil ist locker, witzig – auch wenn einem das Lachen manchmal im Halse stecken bleibt –, im Detail manchmal schwer erträglich, aber eben deshalb so pointiert.
Am Ende steuert das ganze Konstrukt auf einen wahnhaften Höhepunkt hin, den man zwar irgendwie vorausgeahnt hat, der aber in seiner ganzen Wucht dennoch unerwartet hart zuschlägt – im wahrsten Sinne des Wortes. Ganz kleiner Kritikpunkt zur Abschlussszene: Hier hätte ich mir eine etwas andere Auflösung gewünscht, für die Protagonistin und für mich als Leserin. Dazu kann ich aber nicht zu viel verraten, ohne zu spoilern.
Fazit
Verena Keßler erzählt auf relativ wenigen Seiten eine kraftvolle Geschichte, der nie die Puste ausgeht. Einige Stellen erinnerten mich an „Nightbitch“ von Rachel Yoder – ebenfalls eine Zumutung im positivsten Sinne. Große Empfehlung für alle, die etwas mit Übertreibung als Stilmittel anfangen können und wollen und sich nicht zu sehr vor einigen möglicherweise etwas eklig anmutenden Stellen fürchten.
(Danke an Hanser Berlin und Netgalley für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. Keine weitere Vergütung erhalten.)